Ein gesundes Mass an Pragmatismus

Dieses Interview ist erschienen im Buch «Familiensache – Nachfolge leicht gemacht» vom Ernst und Manuel Büsser – 2020

Zum Buch:

Obwohl KMUs die Stützen der Schweizer Wirtschaft sind, finden heutzutage viele keine Nachfolger: Das Buch von Ernst und Manuel Büsser ist auch ein Ratgeber für Firmengründer und ihre Nachfolger. In acht O-Ton-Texten werden die wichtigsten Bereiche der KMU-Übergabe/-Übernahme behandelt, wobei Vater und Sohn ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen getrennt darlegen. Leser erhalten so einen genauen und ehrlichen Einblick in einen menschlich wie auch fachlich komplexen Prozess, der gut vorbereitet sein will und von beiden Seiten viel Goodwill erfordert.

Interviews mit Spezialisten und die geschilderten Erfahrungen der Mitarbeiter, die im Prozess der Übergabe/Übernahme ebenfalls involviert waren, runden das in jeder Beziehung spannende Buch ab.

Interview mit Ignaz Furger:

Herr Furger, was versteht man unter der strategischen Planung genau?

Die strategische Planung ist ein Geschäftsprozess und wird in der Regel im Jahresrhythmus durchlaufen. Dieser Prozess ist der Mittelfristplanung und der jährlichen Budgetierung vorgelagert und befasst sich inhaltlich mit der langfristigen Ausrichtung des Unternehmens. Im Idealfall wird darin einerseits die Unternehmensstrategie einmal im Jahr überarbeitet und angepasst und andererseits auf unerwartete Veränderungen im Umfeld zeitnah reagiert.

Und welche Aufgaben umfasst die Strategieentwicklung?

Diese wird im Rahmen eines Projekts ausgearbeitet und ist zeitlich begrenzt. Das Ergebnis ist, wie es das Wort sagt, die Strategie in Form von Zielen und Massnahmen. Das Projekt unterteilt man klassisch in die folgenden vier Phasen: Vorgaben, Analyse, Gestaltung und Planung. Die Umsetzung fliesst dann in die Mittelfristplanung und die tägliche Arbeit in Form von Projekten ein.

Was hat sich im Vergleich zu früher verändert?

Früher hat man eine Unternehmensstrategie starr nach diesem Prozess von Anfang bis Ende erarbeitet. Heute arbeitet man mehr und mehr situativ, fokussiert sich auf bestimmte Themen wie zum Beispiel die Digitalisierung und versucht flexibel, oder neudeutsch ‚agil‘, zu bleiben. Es gibt neue Instrumente, oder zumindest neue Namen dafür, und vor allem werden Mitarbeiter immer mehr in die Strategieerarbeitung einbezogen.

Strategieprojekte – so schreiben Sie auf Ihrer Webseite – werden zu 70 % nur mangelhaft oder überhaupt nicht umgesetzt. Aus welchen Gründen ist das so?

Die Akteure, nämlich die Mitarbeiter, die die Umsetzung durchführen, werden bei der Entwicklung nicht oder zu spät eingebunden. Sie empfangen die Umsetzung als Befehl von oben anstatt Veränderungen aus eigenem Antrieb umzusetzen. Zudem gibt es keine Standards in der Strategieentwicklung wie z. B. mit der GAAP in der Buchhaltung. Jeder Unternehmer oder Geschäftsführer versucht es auf seine Weise und wendet sich im Notfall an Berater, die jeweils ihre eigenen handgestrickten Methoden mitbringen. Einen dritten Schwachpunkt sehe ich darin, dass ein systematisches Nachfassen der Umsetzung und der Massnahmen oft fehlt. Ich kenne wenig Unternehmen, die ihre Strategie konsequent überarbeiten und immer wieder anpassen. Man fängt jedes Mal wieder von vorne an, und was letztes Jahr festgehalten wurde, hat inzwischen oft jegliche Relevanz verloren.

Gelten im Rahmen der Strategieplanung andere Voraussetzungen als in einem internationalen Grosskonzern?

Ja, auf alle Fälle. Und zwar vor allem dort, wo die KMUs von einem Unternehmer geführt werden und nicht von Managern. Ein Unternehmer braucht keine Strategieplanung. Er weiss, was zu tun ist, und tut es; das macht den Unternehmer aus. Bei Grossunternehmen arbeiten und führen vor allem Manager. Auch wenn sie sich gerne als Unternehmer bezeichnen, sind sie Angestellte und verhalten sich in der Regel auch als solche. Die grössere Verantwortung wird durch die grössere Entlöhnung abgegolten. Wenn der Erfolg ausbleibt, werden sie entlassen, manchmal mit einem goldenen Fallschirm. Der Unternehmer kann das nicht, er haftet vielfach mit dem Privatvermögen und ist auf Gedeih und Verderb vom Erfolg abhängig.

Das KMU hat meist auch weniger Zeit und Geld als ein grosser Konzern. Was bedeutet das genau?

Es muss im heutigen Umfeld schnell agieren und reagieren – und das kann nur der Unternehmer – indem er schnell entscheidet. Ansonsten arbeiten wir heute bei KMUs eher mit den ”vier Gefässen”. Diese geben einen Ordnungsrahmen vor, in dem man Strategien jederzeit überarbeiten und auch kommunizieren kann. Damit behält das Unternehmen die notwendige Flexibilität und Agilität, um auf Änderungen zu reagieren.

Was versteht man unter den ”vier Gefässen”?

Das erste Gefäss enthält Ideen, die noch unausgegoren und ungeordnet sind. Diese werden in einer Liste erfasst und mit einem oder zwei Sätzen beschrieben. Jederzeit können neue Ideen dazukommen oder andere entfernt werden. Das zweite Gefäss enthält Optionen. Optionen sind Ideen, die qualitativ bewertet worden sind, und zwar nach den beiden Dimensionen «Nähe zum bestehenden Geschäft» und «Abstand zum Erfolg».

Ins dritte Gefäss legen wir die Stossrichtungen. Das sind quantifizierte Optionen. Das heisst, wir hinterlegen die Optionen mit Umsatz und Ergebnis über einen Zeitraum von beispielsweise drei bis fünf Jahren. Somit können erste Business-/Finanzpläne erstellt werden. Im vierten Gefäss werden die definierten Projekte dann umgesetzt. Anhand einer Roadmap werden jene Stossrichtungen ausgewählt, die wir umsetzen und füllen.

Aus welchen Gründen sind solche Aktionen im Rahmen einer KMU-Übergabe/-Übernahme notwendig?

Es gibt drei Gründe: Abstimmung mit jener Person, die das Unternehmen übernimmt, neue Finanzierungen, zum Beispiel für Wachstumsstrategien, und die Kommunikation. Im Detail bedeutet das: Wenn der Unternehmervater die Strategie nur im Kopf hat und diese dem Sohn weitergeben will, sind Probleme vorprogrammiert.

Diese mündlich zu formulieren, ist nicht unbedingt die beste Idee. Oft fehlen die klaren Worte, was zu Zweideutigkeiten führen kann. Hilfreich ist es, wenn man sich zusammensetzt und alles schriftlich festhält – so können Unterschiede aufgedeckt werden. Auch kann es sein, dass eine neue Finanzierung notwendig ist, dass eine Bewertung der Firma vorgenommen wird, um die Übergabe auch finanziell zu erledigen. Der dritte Punkt betrifft die Belegschaft, die Kunden, die Stakeholder: Diese sind daran interessiert, wie der Nachfolger weitermacht, was er im Sinn hat und welche Strategie er verfolgt. Auf Basis einer schriftlich vorliegenden Strategie kann die Kommunikation klargestellt und vereinheitlicht werden.

Vor allem den Einbezug von Mitarbeitern innerhalb der angestrebten Veränderungen erwähnen Sie als wichtigen Punkt. Aus welchen Gründen ist es so?

Aufgrund meiner langjährigen Beratertätigkeit kam ich zu folgendem Schluss: «Der Mensch tut das, wovon er überzeugt ist, und überzeugt ist er von einer Erkenntnis, die er selber erarbeitet hat». Zu dieser Thematik habe ich zehn Thesen erfasst unter dem Titel «Die Mitarbeiter sind die besten Strategen». Es war eine Einsicht, die offenbar auch Ernst Büsser überzeugt hat. Nachdem er auf mein Thesenpapier gestossen war, meldete er sich bei mir.

Welche Eigenheiten ergeben sich, wenn Vater und Sohn im Prozess der Übergabe/Übernahme involviert sind?

Ein Vater nimmt zwei Rollen ein – die des Vaters und die des Chefs. Auch wenn er als Vater nicht mehr eine dominierende Position einnimmt, wird es nicht einfach, diese beiden Rollen auseinanderzuhalten. Kritisch wird es dann, wenn er in der Firma als Vater auftritt – und das noch vor den Mitarbeitern. Ebenso ist der Sohn gefordert, der die beiden Rollen Sohn und Angestellter trennen muss. Privat Distanz zu schaffen kann auf beiden Seiten zu einer Entspannung führen.

Für wen ist der Prozess schwieriger, für den Junior oder den Senior?

Das ist unterschiedlich und hängt von den Personen ab. Der Vater hat bei beiden Rollen sicher die stärkere Position – in der Familie als Vater und im Geschäft als Chef. Er benötigt Zeit, um zu akzeptieren, dass der Sohn erwachsen ist. Gelingt ihm dieser Schritt nicht, kann es zu einer Situation wie bei einem Bauern in Vals kommen, der nach einer Diskussion um Angelegenheiten im Familienbetrieb als über 80-Jähriger seinen 60-jährigen

Söhnen beschert hat: „Was wollt ihr denn schon sagen, ihr seid ja noch Buben.” Der Vater muss also privat und geschäftlich loslassen können.

Leadership-Themen, flache Hierarchien, Transparenz auf allen Ebenen – sind die älteren Semester mit der Umsetzung solcher Themen innerhalb einer Übergabe grundsätzlich überfordert, oder wie erleben Sie es?

Natürlich hängen ältere Semester im Allgemeinen an dem, was sie schon immer gemacht haben – aber viele sind offen, wenn es um die Übergabe an einen Jüngeren geht. Einigen Neuerungen stehe auch ich ambivalent gegenüber, denn vieles wird als neuer Wein in alten Schläuchen präsentiert: Das Thema Agilität wurde bereits durch den Begründer des Strategischen Managements, Harry Igor Ansoff, behandelt. John P. Kotter hat im Jahre 2012 in einem Artikel in der Harvard Business Review die moderne Organisation mit dem „dualen Betriebssystem“ hervorragend beschrieben1. Vieles, was danach gekommen ist, ist nur noch ein Abklatsch davon.

Aufgrund meiner Erfahrung kann ich sicher sagen: Es braucht beides, Freiraum und Hierarchie. Eines aber bleibt bestehen: Entscheiden muss der Chef – und dafür trägt er weiterhin die Verantwortung; dazu ist er da und das ist sein Job.

Und welche Themen sind für die Jüngeren eher schwierig?

Hierarchien sind natürlich ungewohnt, aber wenn es um Verantwortung geht, sind auch die Nachfolger froh, dass noch jemand da ist, der ihnen den Rücken stärkt.

In der Zwischenzeit gibt es unzählige Coaches und Plattformen, die bei der KMU-Übergabe behilflich sein wollen. Was halten Sie davon?

Ich sage immer: Wer in der Linie nicht mehr gebraucht werden kann, wird Berater, und wer es als Berater nicht schafft, wird Coach. Sicher gibt es gute Mentoren, die eine wichtige Aufgabe erfüllen. Aber die meisten kommen mir manchmal vor wie die Wanderprediger und Mönche im Mittelalter, die mit ihren guten Vorschlägen und Ritualen den Menschen die Glückseligkeit versprochen haben. Es gibt heute auch keine einheitliche Linie – jeder hat seine eigenen Ideen und seine spezielle Schule. Auch das ist fast so wie im Mittelalter mit den Häretikern – ausser dass sie heute nicht mehr verfolgt werden und freie Hand haben. Ein gesundes Mass an Pragmatismus wäre in diesem Bereich wünschenswert, so wie es der US-amerikanische Managementlehrer Peter Drucker vertritt oder neuerdings Reinhard K. Sprenger in seinem Buch ”Radikal führen”. Sprenger hat fast zwei Jahre in der Linie als Angestellter gearbeitet und diese Erfahrungen in einem Buch festgehalten2, das man gelesen haben muss.

Was halten Sie von Seminaren und Kursen, die sich der Weiterbildung, der Motivation, der Selbstoptimierung und der Selbstanalyse widmen?

Einmal pro Jahr eine Weiterbildung besuchen tut gut. Sich alle paar Jahre einen Spiegel vorhalten ebenfalls. Das gilt für den Chef und manchmal auch für die Mitarbeiter. Was mir aber auch auffällt: Mitarbeiter im KMU, die einen vernünftigen Job machen, vielfach noch in Handarbeit, oft auf dem Land leben und über ein intaktes soziales Umfeld verfügen, benötigen weniger Motivationstrainings als Mitarbeiter bei einer grossen Versicherung, die in einem Bürokasten im sterilen Vorort einer Stadt arbeiten.

Sie beschreiben Firmen als lebendige Organismen, also als individuelle Gebilde, die man nicht einfach über einen Kamm scheren kann. Welche Konsequenzen hat diese Einsicht auf Ihre Arbeit?

Der Wirtschaftswissenschaftler Hans Ulrich hat ein Unternehmen als «soziales, produktives und offenes System» beschrieben. Das Ziel oder der Sinn dieses Systems ist der Erhalt seiner eigenen Lebensfähigkeit. Diesen Ansatz habe ich mir zu eigen gemacht – und da gibt es Kriterien und Eigenschaften, an denen man sieht, ob die Lebensfähigkeit gegeben ist oder ob sie in Gefahr ist. Ein wichtiger Punkt ist, dass dieses System eine gewisse Reife erreichen muss, sprich, es muss ohne den Chef existieren können. Der Chef muss sich irgendwann entbehrlich machen können. So lange der Chef da sein MUSS, ist es nicht alleine lebensfähig. Fällt dieser weg – Und sei es nur für kurze Zeit – zeigt sich, ob die Organisation weiter besteht und also überleben kann.

Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Patron und seinem Nachfolger sind beinahe vorprogrammiert, speziell wenn es sich dabei um Vater und Sohn handelt. Wie erzielt man Einigkeit?

Vorweg: Meinungsverschiedenheiten gehören dazu. Diese muss man ausdiskutieren, und dabei hilft natürlich eine dritte Person, die den Diskurs leitet. Man muss aber nicht immer gleicher Meinung sein. Einer wird sich dann durchsetzen – am Anfang wird das meist der Senior sein; aber wenn es dem Junior gelingen soll, sich mehr und mehr durchzusetzen, geschieht das manchmal aufgrund von Meinungsverschiedenheiten. Diese können eine Möglichkeit für den Nachfolger sein, sich seine Position zu erarbeiten und sich durchzusetzen.

Tritt bei innerfamiliären Firmenübergaben die persönliche Ebene stärker in den Vordergrund als bei anderen Konstellationen, und wie gehen Sie damit um?

Die Konzentration auf die Sachebene ebnet oft auch den Boden, um persönlichen Befindlichkeiten auf die Spur zu gehen. Andere ”Knöpfe” lösen sich dann oft ebenfalls. Ich arbeite mit spezifischen Instrumenten, so zum Beispiel mit der SWOT, um die Ausgangslage darzustellen, oder mit dem Adjacency-Diagramm, um strategische Optionen und Stossrichtungen zu bewerten. Wenn das Ergebnis in Form eines Diagramms oder einer Grafik vorliegt, die klar die Vorteile aufzeigen oder die Richtung, die einzuschlagen ist, das heisst, wenn die Argumente analytisch hergeleitet werden, dann wird das Ergebnis meist akzeptiert. Aber ich halte es hier auch mit einer Methode aus dem Buch ”Der Mafia Manager”3: zuerst alles analysieren und dann den Bauch entscheiden lassen.

Welches sind die wichtigsten Voraussetzungen, die die Protagonisten einer KMU-Übernahme/-Übergabe erfüllen müssen, damit das Vorhaben erfolgreich umgesetzt werden kann?

Fachwissen, Vorbildfunktion und Motivation auf der einen Seite und auf der anderen Seite im richtigen Moment loslassen. Dieses Loslassen muss nicht nur innerlich, sondern auch formal geschehen. Bei Personen, die in keiner persönlichen Beziehung zueinander stehen, wird das Austrittsdatum vertraglich festgelegt, und der alte Besitzer ist draussen. Auch bei Vater und Sohn empfiehlt sich ein formales Vorgehen, aber das ist halt manchmal einfacher gesagt als getan.

Eine beachtliche Anzahl an KMU-Unternehmen findet heute keine Nachfolger. Warum eigentlich?

Ich bin anderer Meinung. Ein KMU, das funktioniert, in dem Umsatz und Ertrag stimmen und das strategisch gut aufgestellt ist, findet vielleicht nicht den direkten Nachfolger, aber es findet immer einen Käufer. Es gibt einen riesigen Markt und auch viele Berater, die sich dem Thema annehmen. Ich sehe eher wirtschaftliche Gründe für den Misserfolg, und das ist auch gut so. Denn es bringt nichts, ein krankes Gebilde am Leben zu erhalten. Ein Chef von mir hat einmal gesagt: „Das ist wie das Warmhalten einer strategisch toten Leiche.”


Mit freundlicher Genehmigung der Autoren: Ernst und Manuel Büsser: «Familiensache – Nachfolge leicht gemacht»


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